Rainer Fehr erforscht die „Stadt- und Regional-Gesundheit“

Als Arzt sehen Sie die Patienten oftmals viel zu spät“, sagt Professor Rainer Fehr. Der Mediziner, Professor für Gesundheitswissenschaften und heutiger Seniormitarbeiter der Universität Bielefeld, hat immer wieder nach Antworten gesucht, warum Menschen krank werden. Es geht ihm um die „frühen Faktoren in der Wirkungskette einer Erkrankung.“
Gefunden hat er allerdings vor allem neue Fragen und so sein wissenschaftliches Blickfeld erweitert: „Es ist meistens ein ,Und‘, wenn wir nach den Auslösern suchen, die wir als Mediziner den Krankheiten zuschreiben.“ Es könnten Mikroorganismen sein, genetische Dispositionen, Fehlbelastungen, Lebensstile, Lebensumstände etc.
Dankbar für die gute ärztliche VersorgungDer klassischen Medizin zollt Fehr großen Respekt und empfindet vor allem Dankbarkeit für die gute ärztliche Versorgung. Der Wissenschaftler in ihm aber wollte nicht bei diesen „späten Stationen der Kausalkette“ stecken bleiben.
Er wollte mehr über die Verteilung von Krankheiten in der Bevölkerung wissen und herausfinden, welche Faktoren im Umfeld die Menschen gesund erhalten und welche sie belasten.
Dieser Gedanke ließ ihn nach seinem Medizinstudium weiter auf die Suche gehen. Heute ist sein Name verbunden mit dem hochaktuellen Forschungsfeld der „Stadt- und Regional-Gesundheit“das mit den Leitprinzipien „Blickfelderweiterung“ und „Brückenbau“ arbeitet.
Gesundheitswissenschaftler, Mediziner, Psychologen, Stadtplaner tauschen sich zum einen intensiv darüber aus, wie sich das Leben in der Stadt und auf dem Land auf die individuelle Gesundheit in der Bevölkerung auswirkt und suchen zum anderen nach gemeinsamen Handlungsansätzen für die Praxis, um gesundheitsförderliche und nachhaltige Orte zu gestalten.
Epidemiologisches Wissen als BasisSein Interesse und seine Neugier haben ihn immer wieder zum richtigen Zeitpunkt an die richtigen Orte geführt. Zum Beispiel nach Birmingham, wo er als Medizinstudent nebenbei das Programmieren lernte. Zum Beispiel nach Hamburg, wo er als Mediziner in der Gesundheitsbehörde Daten zur Gesundheit der Einwohner erhoben und ausgewertet hat.
Der entscheidende Schritt aber war das Public-Health-Studium an der Universität Berkeley in Kalifornien. Dort hat er mit Schwerpunkt Epidemiologie das wissenschaftliche Handwerkszeug im Umgang mit Daten und Statistiken erhalten und zudem den Austausch mit Prof. Leonard Duhl gepflegt.
Der US-Psychiater gilt als einer der Pioniere der Stadtgesundheit. Seine zentrale These: Lebenswerte Städte, die über angemessenen Wohnraum, saubere Luft und Trinkwasser sowie starke Gemeinschaften verfügen, bringen auch gesunde Menschen und Gesellschaften hervor.
Duhls Konzepte und Ideen wurden weltweit aufgenommen und haben auch Fehr inspiriert. Zurück in Deutschland, wurde er Mitarbeiter und später Leiter des NRW-Landeszentrums für Gesundheit und befasste sich intensiv mit möglichen Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit.
Schon in Hamburg hatte er zu den Krebsraten von Anwohnern verkehrsreicher Straßen geforscht. Als Mitte der 1990er-Jahre die deutschlandweit erste Fakultät für Gesundheitswissenschaften in Bielefeld aufgebaut wurde, avancierte Fehr mit dem Public-Health-Ansatz aus den USA und seinem epidemiologischen Wissen im Gepäck zum führenden Kopf beim Aufbau der Arbeitsgruppe „Umwelt und Gesundheit“ an der Universität.
„Silent Spring“ als FamilienlektüreDie erste Professur übernahm später Professorin Claudia Hornberg, heute Gründungsdekanin der medizinischen Fakultät Bielefeld und seit Jahren Vorsitzende des Sachverständigenrates für Umweltfragen.
Fehr arbeitet langjährig mit Hornberg zusammen, zunächst in der Fakultät für Gesundheitswissenschaften, inzwischen in der neuen medizinischen Fakultät. „Im Nachhinein wirkt es, als wäre mein wissenschaftlicher Weg von langer Hand geplant gewesen“, sagt Fehr und lacht.
Sein Interesse für Umwelt und Gesundheit hat in der Tat Wurzeln, die biografisch weiter zurückreichen. Als Kind und Jugendlicher hat Fehr, Jahrgang 1947, viele Ausflüge – „die kleinen Geschwister der Reise“ – mit seinen Eltern gemacht.
Das Wahrnehmen der Natur, das Staunen über Blüten, Bäume, Sträucher und das Entdecken der heimischen Tierwelt wurde gemeinsam erlebt. Der Vater, ein Tierarzt, war zudem von „Silent Spring“, einem Buch der US-Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson, beeindruckt und erschüttert.
„Die Natur ist unsere Lebensgrundlage“Das Buch der US-Autorin war eine Familienlektüre. Carson warnte darin vor der Vergiftung der Natur durch das Insektenvernichtungsmittel DDT und fürchtete, dass es im Frühling bald bedrohlich still sein könnte – ohne das Gezwitscher der Vögel.
Ihr Buch erschien 1961, elf Jahre vor den berühmten „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome, und gilt heute als eine Art Gründungsdokument der weltweiten Umweltbewegung.
Im Gespräch scheint es, als würde Fehr selbst staunen über die vielfältigen Fäden in seinem Leben, die ihn immer wieder mit dem Thema Stadt- und Land-Gesundheit verknüpft haben. Sein Gesicht hat eine erfrischend wache Mimik, die sein Lachen unterstreicht und eben auch das Ernste widerspiegelt.
Zum Beispiel bei den Sorgen um unsere Umwelt: „Die Natur ist unsere Lebensgrundlage. Es ist viel mehr als nur ein Ort zum Sporttreiben und Erholen. Wir Menschen sind geradezu angewiesen auf die Natur, brauchen den Kontakt, um auch uns zu renaturieren.“
Rückschlüsse auf eine gesundheitsschädliche UmweltMittlerweile gibt es Studien, die die Verwobenheit von Mensch und Umwelt eindrucksvoll belegen. So legt die regionale Verteilung von Krankheiten wie Depressionen oder COPD zum Beispiel Rückschlüsse auf eine gesundheitsschädliche Umwelt nahe.
Und die moderne Stadtplanung stellt sich zunehmend die Frage, wie aus dem Zusammenspiel von Straßen, Wohnhäusern, Gewerbegebieten, Stadtnatur und Wasserläufen gesundheitsförderliche Orte gestaltet werden können.
Fehr hat diesen Forschungszweig in Deutschland über Jahre hinweg vorangetrieben, selbst entsprechende Studien auf den Weg gebracht und mehrere Bände zur nachhaltigen Stadtgesundheit – unter anderem in Hamburg – herausgegeben.
„Wir hatten das große Glück, dass sich das Deutsche Stiftungszentrum schon seit Jahren auf das Thema StadtGesundheit eingelassen hat und ein entsprechendes Forschungsprogramm fördert“, sagt er.
Wie „grün“ und „blau“ die Stadt der Zukunft aussehen wird, hält er für eine entscheidende Frage: „Die grünen Flächen inmitten der Städte müssen miteinander verbunden werden, sodass die Tiere und Pflanzen eine Chance zum Überleben haben, sich vielfältig entwickeln und weiter wandern können und nicht von unüberwindbaren Asphaltstraßen oder Gebäudekomplexen gestoppt werden“.
Die Gesundheit von Menschen, Tieren, Pflanzen und dem gesamten Ökosystem ist eben eng miteinander verwoben. „Da gibt es noch viel zu erforschen und zu entdecken“, resümiert Fehr.
Arzte zeitung